Das JAHR DER BARMHERZIGKEIT in Esslingen
Ein „Jahr der Barmherzigkeit“ hat Papst Franziskus am 8. Dezember für das Jahr 2016 ausgerufen. Barmherzigkeit soll unser menschliches Zusammenleben prägen – in unseren Partnerschaften, Familien, Städten und Kirchengemeinden ebenso wie im politischen Handeln. Weil Gott barmherzig ist, sollen auch die Menschen, die auf IHN vertrauen, barmherzig leben und handeln.
Ich lade Sie herzlich ein, dass wir diesen Impuls des Papstes aufgreifen: 2016 soll auch für uns in Esslingen ein Jahr der Barmherzigkeit sein. Was kann das konkret bedeuten? Für unser kirchliches Leben in der Stadt, aber auch für uns als einzelne Christen?
Wir Seelsorgerinnen und Seelsorger wollen uns mit Ihnen auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen machen. In der Fastenzeit laden wir ein zu einer Predigtreihe zum Thema Barmherzigkeit ins Münster St. Paul. Am fünften Fastensonntag (13. März) werden wir dann auch eine „Pforte der Barmherzigkeit“ in St. Paul eröffnen, die allen Passanten Anregungen gibt für ein barmherzigeres Leben und Glauben im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit. Unsere Gremien und Gruppen werden wir ansprechen, um zu überlegen, was dieses Jahresthema für unsere Gemeinden bedeutet, wie es unser Miteinander prägen kann. Mit verschiedenen Aktionen werden wir das Anliegen der Barmherzigkeit im Lauf des Jahres immer wieder unter die Menschen bringen – lassen Sie sich überraschen! Und schließlich werden auch die Leitworte, die wir für die „Kirchlichen Mitteilungen“ schreiben, in jeder Ausgabe bestimmte Aspekte des Themas Barmherzigkeit beleuchten.
Anfangen sollten wir – wie immer – bei uns selbst: Nehmen Sie sich vor, überall dort, wo Sie mit sich selbst unzufrieden sind, wo Ihnen Ihre Leistung nicht genügt, wo Sie es gerne besser machen würden, barmherzig mit sich selbst zu sein. Ja zu sagen zu sich selbst und zur Wirklichkeit Ihres Lebens. Nur wer sich selbst nicht überfordert, kann auch barmherzig zu den Mitmenschen sein.
Ein gesegnetes Jahr der Barmherzigkeit wünscht Ihnen und uns von Herzen
Pfarrer Stefan Möhler
Barmherzigkeit ist mehr als nur ein Wort – Impuls zum Jahr der Barmherzigkeit
Die innere Gelassenheit, die sich auf die Worte Christi und seine Verheißung stützt,
erzeugt eine unzerstörbare Heiterkeit, die sich wie eine Blüte entfaltet im
Antlitz, in den Worten, im Benehmen und in der Übung gewinnender Nächstenliebe.
Es gibt einen Austausch physischer und geistiger Kräfte in uns:
„Der Seele
Süßigkeit ist Labsal für den Leib.“ In Frieden mit dem Herrn zu leben, im
Wissen um die Vergebung, und unsererseits die Sünden anderer zu vergeben führt
zu jener Kraft und Fülle, von der der Psalmist spricht und die auf unseren
Lippen das ewige Magnificat erblühen lässt. P. Johannes XIII.
Entnommen
aus: Hrsg. Bischof F.-J. Bode „Stundenbuch“, Stuttgart, 2005, S. 363
Werke der Barmherzigkeit
Der Glaube drückt sich im Gebet und im Gottesdienst aus. Aber nicht nur darin. Er muss auch in
der tätigen Nächstenliebe wirksam werden, um echt und fruchtbar zu sein. Nicht
nur im Gottesdienst, sondern auch im selbstlosen Liebesdienst an den Brüdern
und Schwestern bringen wir unseren Glauben zum Ausdruck und erweisen wir Gott
die Ehre, die ihm gebührt. Paulus sagt deshalb im Galaterbrief, dass es darauf
ankommt, „den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist“ (Gal 5,6).
Ohne Werke der
Liebe ist der Glaube tot, wie es auch im Jakobusbrief heißt: “Du hast Glauben
und ich kann Werke vorweisen; zeig mir deinen Glauben ohne die Werke und ich
zeige dir meinen Glauben aufgrund der Werke. Willst du also einsehen, du
unvernünftiger Mensch, dass der Glaube ohne Werke nutzlos ist?” (Jak 2,18.20)
Das Erste, was wir uns also klarzumachen haben, ist, dass die Werke der Barmherzigkeit nicht
irgendwie ein Anhängsel an unseren Glauben sind, auf die wir auch verzichten
könnten. Sie sind vielmehr Ausdruck und Prüfstein unseres Glaubens. Nur wenn
wir sie aus der Kraft des Heiligen Geistes in Freude vollbringen und
praktizieren, können wir Gott wohlgefällig leben und unserer Berufung
entsprechen.
Die Bibel lehrt
uns an einen Gott zu glauben, der in seiner Liebe so weit geht, sich die
Bedürfnisse und Nöte seiner Geschöpfe zu eigen zu machen: „…habt ihr mir
getan.“ Ein Gott, der das Elend sieht, das Leid kennt und der in seinem Sohn
Jesus Christus herabsteigt, um mitten in diesen Nöten uns nahe zu sein.
Barmherzigkeit ist mehr als nur ein Wort – Impuls zum Jahr der Barmherzigkeit
Mein Gott, lass mir im Leben des andern dein Antlitz leuchten.
Das unwiderstehliche Licht deiner Augen, das auf dem Grund der Dinge strahlt,
hat mich schon zu jedem Werk begleitet, das ich vollbringen,
und zu jedem Schmerz, den ich ertragen musste.
Gib, dass ich dich auch vor allem im Innersten der Seele meiner Brüder und Schwestern erkenne.
Pierre Teilhard de Chardin, Entnommen aus: Hrsg. Bischof F.-J. Bode „Stundenbuch“, Stuttgart, 2005, S. 351
Die geistlichen Werke der Barmherzigkeit: Für Lebende und Verstorbene beten
Wenn wir in einer Disziplin Meister sind, dann ja wohl im Beten. Dieses geistliche Werk der Barmherzigkeit kann sich also guten Gewissens jeder von uns auf die Fahne schreiben, auch ohne noch einmal darüber nachdenken zu müssen.
Das Beten für Verstorbene ist ja auch in der sonntäglichen Praxis gut positioniert. Wird doch im Hochgebet, in den Fürbitten und auch in den Vermeldungen immer wieder der Verstorbenen aus unseren jeweiligen Gemeinden gedacht. Der Lebenden widmen wir uns auch, mal mehr oder weniger aufmerksam in den Fürbitten, in denen wir verschiedene Situationen und Menschengruppen in den Blick nehmen.
Wie kommt es dann, dass dieses Werk der Barmherzigkeit uns explizit aufgetragen wird? Ist es nicht zu banal, zu alltäglich?
Jesus gibt seinen Jüngern den Auftrag für die anderen zu beten und er schließt dabei alle ein, auch jene, welche ihm nicht so wohlgesonnen sind. Das zeigt er am deutlichsten im letzten Gebet am Kreuz vor seinem Tod.
Auch die Apostel, und darin vor allem Paulus schreibt in seinen Briefen vom Gebet für die Menschen und der Bitte um das Gebet für seinen Auftrag.
Die Ermahnung zum Gebet für die Lebenden ist anscheinend eine Herausforderung, nicht nur heute, sondern schon zur Zeit Jesu. Es steckt nämlich eine allzu menschliche Gefahr darin, dass wir nur für jene beten, die wir gerne haben und die uns auch Gutes tun.
Für mich habe ich in den vergangenen Jahren hier in Esslingen einen kleinen Schritt heraus aus meiner Komfort-Zone gefunden, denn in die genannte Falle habe ich mich selber oft hineingebetet.
Ich bete weiterhin für Menschen, die mir am Herzen liegen, jedoch habe ich begonnen, im Gehen durch die Stadt und im Grüßen auch für alle zu beten, die mir begegnen, ob ich sie kenne oder nicht, ob sie meinen Gruß erwidern oder schweigen.
Das geht mit einem einfachen und kurzen Gebet, mit einer Begrüßungsformel, die so schlicht ist wie Gott, den wir im Nächsten zu erkennen suchen.
Ich bete für die Lebenden – Grüß Gott!
So wünsche ich Ihnen ein gutes Beten.
Ihr Pfr. M. Scheifele
Geistliches Werk der Barmherzigkeit: Beleidigern gerne verzeihen
Jeder Christ kennt den Anspruch Jesu, siebzigmal siebenmal zu verzeihen, und weiß, wie schwer es fällt, diesen hohen Anspruch im Alltag einzulösen.
Verzeihen bedeutet vielerlei: erlittenes Unrecht nicht entgelten, es einem nicht krummnehmen, loslassen, jemanden freisprechen, nicht grollen oder mit Strafe reagieren, mit anderen neu anfangen.
Es gibt wahrscheinlich täglich Anlässe, wo es darum geht, anderen und sich selbst zu verzeihen. Die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit nennen im Zusammenhang des Verzeihens speziell die barmherzige
Tat, Beleidigern gerne zu verzeihen!
Dieses Werk provoziert, zumal es da heißt, dass wir Beleidigern nicht nur verzeihen, sondern gerne verzeihen
sollen. Wird da nicht ein bisschen zu viel verlangt?
Die Psychologie versteht unter einer Beleidigung eine Aussage oder Handlung, die negative Gefühle in Menschen hervorrufen, weil ein Mensch sich durch sie in seinem Ego, seiner Ehre oder seinem Status missachtet
oder heruntergesetzt fühlt. Ich selber ertappe mich zuweilen, wie meinem „Ich“ die Aussage oder Geste eines anderen zu schaffen macht.
Manchmal muss ich im Rückblick aber feststellen, dass eine solche Aussage gar nicht beleidigend gemeint war. Vermutlich ist es auch so, dass Menschen, die bewusst beleidigen, sich letztlich selbst in ihrer Ehre abwerten.
Jemandem gerne zu verzeihen, der mit Worten und Gesten verletzt, das ist eine Fähigkeit, die wir vermutlich immer wieder neu einüben müssen.
Und: Je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass es sich um eine Gabe handelt, die uns im Gebet
geschenkt wird. Wer betet, bindet sich an Gott und wer betet, kann innerlichfrei werden von Beleidigungen, die ihm im Alltag widerfahren.
Beleidigungen sind emotionale Kränkungen und könnennach § 185 StGB strafbar sein. Wohl also denen, die beleidigen und nicht angezeigt werden.
Wohl vor allem dem, der durch Beleidigungen nicht die innere Souveränität verliert. Wohl auch dem, der nicht beleidigen muss, um sein Ego auf Kosten anderer künstlich aufzublähen und wohl allen, die Beleidigungen nicht einfach runterschlucken,sondern mutig thematisieren oder sie gar im Gebet bei Gott ablegen, damit sie
leichter leben.
Diakon Markus Schwer
Barmherzigkeit ist mehr als nur ein Wort –Impuls zum Jahr der Barmherzigkeit
Ja, Herr, führe du uns Schritt für Schritt.
Führe uns heraus aus aller Umtriebigkeit und allen Ausflüchten.
Führe uns heraus aus aller Angst vor der eigenen Wahrheit.
Führe uns heraus aus dem, was uns bedrängt, was uns herunterzieht und die Freude am Leben nimmt.
Führe uns in deine Arme, lasse uns aufatmen bei dir.
Hilf uns, deiner Barmherzigkeit zu vertrauen und deine Vergebung anzunehmen.
Führe uns Schritt für Schritt unter deiner Gnade in einen neuen Morgen.
Gib uns ein festes Herz, mach es fest in dir.
Amen.
Entnommen aus: Hrsg.: Bischöfliches Ordinariat Rottenburg-Stuttgart (HA VIIIa) „Jubiläum der Barmherzigkeit“ S.56f
„Unwissende lehren“
heißt eines der geistigen Werke der Barmherzigkeit. Auf den ersten Blick stört mich etwas an diesem Wort.
Den anderen belehren klingt da heraus – und jeder von uns kennt dieses unangenehme Gefühl, wenn das Gegenüber sein Besser-Wissen zeigt. Oder mich bloßstellt in dem, was ich nicht kenne.
Noch nicht kenne.
Meine Mutter hat nicht studiert – aber sie konnte oft sagen: Ich studiere das Leben.
Dieser Gedanke lässt ahnen um was es bei diesem Werk der Barmherzigkeit eigentlich geht.
Nicht um ein Vielwissen!
Ich könnte das Wort auch umdrehen und fragen: Wer lehrt mich? Von wem lerne ich? Blicke ich
so auf meinen Leben, dann komme ich auf Menschen, die mein Herz berühren. Ein Schüler,
der das Jesuskind in der Hand hält, es staunend betrachtet und nach einer Weile sagt:
„Wie mein Bruder!“ Oder ich denke an eine Frau, die ich nach der Beerdigung ihrer Mutter treffe.
Sie erzählt vom Abschiednehmen. Ich bin berührt von ihrem zärtlichen Umgehen mit sich selber,
ihrem achtsamen Hineingehen in diese Zeit, in der sie ihrer Trauer begegnet.
Aus jeder Begegnung gehen wir anders heraus, als wir hineingegangen sind. Eine wirkliche
Begegnung verändert uns. Berührt etwas in uns. Lehrt uns etwas. So trägt das Wort
„Unwissende lehren“ den wunderbaren Gedanken, den anderen in eine neue Sichtweise hineinzuführen.
Ganz behutsam werden wir an die Hand genommen und dürfen unserem Lebensgeheimnis ein Stück näherkommen. Zu einer Begegnung gehören zwei – und immer braucht es auf beiden Seiten eine
Offenheit. Lehrende und Lernender – beides ist in jedem von uns. Es gibt Zeiten, da dürfen wir uns an
die Hand nehmen lassen und von anderen lernen, wie sie ihr Leben meistern. Und dann gibt es Zeiten,
in denen wir einen Menschen anvertraut bekommen, der uns braucht, um mit neuen Augen auf
sein Leben blicken zu können.
ClaudiaEbert
Barmherzigkeit ist mehr als nur ein Wort – Impuls zumJahr der Barmherzigkeit
„Mein Ort ist, wo Augen mich ansehen, wo sich die Augen treffen,
entstehe ich.“, schrieb einst Hilde Domin in einem Gedicht. Wenn der Mensch ein
Antlitz erhält, wenn er zu einem Du wird, dann wird er im Auge des anderen zum
Mit-Menschen. und es wird schwer sein, ihn zu missachten, an ihm vorbeizugehen,
wenn er hungert. Und es verlangt viel Verrat an sich selbst und dem andern,
wegzuschauen, wenn er leidet und misshandelt wird.
Doris Weber in: „Mein Ort ist, wo Augen mich ansehen“, Publik-Forum 6-2008,
S. 62
„Sünder zurechtweisen“ - ein politisches Werk der Barmherzigkeit
Sünder zurechtweisen
Sünder zurechtweisen – eine schwierige Aufforderung. Vielleicht war sie in den früheren Jahren leichter verständlich, als Begriffe wie „Sünder“ und „Zurechtweisung“ häufiger in der Alltagssprache benutzt wurden. Ein „Sünder“, ist jemand, der sich von Gott entfernte und deshalb Böses tut. Doch sprechen wir heute eher von einem Tatverdächtigen, sogar von einem Verbrecher. Das Wort „Sünder“ ist nur noch ein religiöser Begriff. In der Umgangssprache wird es eher verniedlicht. So besingen wir im Karneval uns alle als „kleine Sünderlein“, sprechen von einem „Verkehrssünder“, oder, jetzt ganz aktuell zur Fußball-EM, von einem „Gelbsünder“. Diese Sünder werden nicht zurechtgewiesen, sondern bestraft! Ich sehe dieses geistliche Werk der Barmherzigkeit heute so:
Correctio fraterna – brüderliche Zurechtweisung
Das „Zurechtweisen von Sündern“ gehört schon seit Jahrhunderten zu unserer christlichen Tradition. Wahrscheinlich geht diese christliche Pflicht auf den Heiligen Benedikt, den Gründer des Benediktinerordens und des europäischen Ordenslebens, zurück. Der Mitbruder sollte zunächst unter vier Augen vor einer Verfehlung bewahrt oder zur Umkehr ermuntert werden. Damit hat „Zurechtweisung“ etwas mit Achtsamkeit gegenüber dem anderen und mit Verantwortung für das Gemeinwohl zu tun. Der Blick ist dabei auf Christus gerichtet, um sich selbst vor Überheblichkeit zu schützen. Diese „correctio“ ist Alltagspraxis. So weisen wir zum Beispiel unsere Kinder zurecht und versuchen sie so auf den richtigen Weg zu führen. Oder wir ziehen im Berufsalltag Grenzen, falls Achtung, Würde und Respekt im Kollegenkreis bedroht werden. Selbst im Freundeskreis helfen wir uns und ermahnen denjenigen, der es nicht ehrlich mit uns meint. Ob dabei immer der Blick auf Christus gerichtet ist, ist eine andere Frage.
Zivilcourage – Zeichen für Zurechtweisung
Doch geht das „Sünder zurechtweisen“ über das Private hinaus, wenn es darum geht, in der Öffentlichkeit eine klare Haltung zu beweisen. Modern ausgedrückt heißt das: „Zivilcourage“ zeigen. Denn Zivilcourage meint, gegen Unrecht und gegen die Notlage anderer einzutreten. Heute gibt es viele Möglichkeiten barmherzig zu sein, den Sünder zurechtzuweisen und damit Zivilcourage zu zeigen: Es gilt Zeichen zu setzen, wenn politisch Verfolgte als „Sozialschmarotzer“ bezeichnet werden; wenn christliches Tun aus Nächstenliebe als naives Handeln gebrandmarkt wird und Menschen versuchen, rücksichtslos andere mit der Gewalt des Wortes zu benachteiligen. Dann ist eine öffentliche Zurechtweisung der Sünder gerechtfertigt und gewinnt eine politische Dimension. Auch das ist barmherziges Handeln. Denn Barmherzigkeit und der Einsatz für mehr Gerechtigkeit gehören zusammen, so sinngemäß Papst Franziskus in seiner Verkündigung zum Jahr der Barmherzigkeit im April 2015.
Barmherzigkeit ist mit liebendem Blick auch politisch
Für uns scheinen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit weit auseinander zu liegen. Doch ist beides untrennbar miteinander verbunden. Denn beides hat in Gott seine Wurzeln.
Öffentlich „Sünder zurechtweisen“ als barmherziges Handeln ist politisches Handeln. Jedoch nicht aus Eigennutz, sondern mit einem liebenden Blick. Denn Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und die Liebe gehören zusammen.
Uwe Schindera, Seelsorger für Oberesslingen, Zell, die Kindergärten und die Hochschule
Zweifelnden recht raten
Es steckt schon im Wort selbst: Zweifel – sie haben
etwas Zwiefältiges, etwas Gespaltenes in sich. Auf der einen Seite bergen
Zweifel eine schöpferische Kraft in sich: wer zweifelt, fragt nach, schaut nach
vorn, hat Forscherdrang in sich. Auf der anderen Seite – und so sind sie wohl
vor allem bekannt – bergen Zweifel ein zerstörerisches und zermürbendes
Potential in sich. Oft sind Zweifel nicht nur harmlose
Entscheidungssituationen. Ein zweifelnder Mensch kann sich an der Ungewissheit
und Unsicherheit aufreiben und zugrunde gehen, er kann ver-zweifeln; vor allem
wohl, wenn es um Beziehungs- und Glaubenszweifel geht.
Hilfreich und unterstützend kann ein geistiges Werk
der Barmherzigkeit sein: Zweifelnden
recht raten. Die behutsame Formulierung zeigt an, dass es bei diesem Beistehen
nicht um ein Erteilen von Rat-Schlägen geht, vor allem, wenn dieses Werk der
Barmherzigkeit von den drei christlichen Tugenden Glaube – Liebe – Hoffnung
geprägt und durchdrungen ist. Vielleicht gelingt es, in Liebe, behutsam und feinfühlig,
die Zweifel des anderen anzuschauen; ihm und seinen Zweifeln Raum zu geben.
Vielleicht gelingt es, in aller Unsicherheit gläubig auf den zu verweisen, der
letztlich Sicherheit gibt: Gott. Vielleicht gelingt es, von der eigenen
Hoffnung zu erzählen und dabei mit dem anderen und evtl. auch stellvertretend
für den anderen zu hoffen.
Vikar Dr. Horst Walter
Barmherzigkeit ist mehr als ein Wort:
eine Grundhaltung, eine Gesinnung, eine Glaubenshandlung, ein Akt der Nachfolge. Unter dieser
Rubrik möchten wir in jeder Ausgabe des Gemeindebriefs fortan einige Impulse zum Thema „Barmherzigkeit“ veröffentlichen.
Wir erhoffen uns dadurch, diesen Begriff nicht nur als ein Motto aufzufassen, sondern Barmherzigkeit so,
wenigstens ein stückweit, zu einem Lebensziel werden zu lassen.
„Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Kränkung mit
Kränkung! Stattdessen segnet!“ (nach 1.Petr 3,9)
Barmherziger Gott,
Du suchst unter allen Umständen die
Beziehung zu uns.
Du hast keine anderen Füße und Hände als unsere, um
dies die Menschen spüren zu lassen. Du hast keinen anderen Mund als unseren, um
zu den Menschen Ja zu sagen. Du hast kein anderes Herz als unseres, um
barmherzig zu sein.
Jesus Christus, bilde immer mehr unser Herz nach
deinem Herzen. Lass uns immer mehr erfahren, wie sehr Du uns liebst. Befähige
uns, mit uns, mit den anderen Menschen und mit der ganzen Schöpfung barmherzig
umzugehen. Amen.
Entnommen aus: Barmherzigkeit – Hrsg.: Bischöfliches
Genrealvikariat Münster, HA Seelsorge, Münster, 2015
„Folgt jetzt also das Jahr guter Taten?“ lautete eine Frage im Radio bezüglich des von Papst Franziskus
ausgerufenen Jahres der Heiligen Barmherzigkeit. Mag sein, doch Barmherzigkeit
ist mehr als das. Es ist verführerisch über Barmherzigkeit phrasenhaft und
flapsig zu sprechen, denn sie meint kein zeitweiliges Wohlgefühl, das Wunden
lediglich abzudecken vermag. Dieses wird all jenen Menschen nicht gerecht,
denen tatsächliches Leid zuteilwurde: eine Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit.
Das Wort
Barmherzigkeit ist ein redlicher Versuch, in die eigene Peripherie und
Sprachlosigkeit der Welt, die statt Güte Gleichgültigkeit und Hass kennt, die
statt Wohlwollen auf Eigennützigkeit und Härte eingeübt ist, ein Wort zu
finden, das der christlichen Botschaft Laut und Stimme geben kann. So wurde
wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt. Das lateinische Wort „misericordia“
beinhaltet gemäß seiner ursprünglichen Wortbedeutung: sein Herz (cor) bei den
Armen (miseri) haben; ein Herz für die Armen haben. Barmherzigkeit ist eine
Lebenseinstellung und die motivationale Grundlage einer Ethik, die den eigenen
Egozentrismus übersteigt, indem sie das Herz sowohl beim notleidenden Anderen
als auch bei der Sinnlosigkeitserfahrung hat. Für den Kirchenvater Augustinus
und Thomas von Aquin meint „misericordia“ im Wortsinn nach Aristoteles
Mitleiden – compassio. Es bedeutet eine Leidenssensibilität, die mehr ist als
bloßes Gefühl, das in Bälde wieder verblasst. Es ist ein Mit-Leid, das zu einem
leidenschaftlichen Engagement für die Bedürftigkeit anderer animiert. Es darf
nicht nur affektiv verstanden werden, sondern: wer bis in seine ganze Existenz
betroffen ist, möchte auch die Umstände des vom Schicksal Gebeutelten ändern.
So beinhaltet Barmherzigkeit eine ganzheitliche Form der Wahrnehmung der
Wirklichkeit, die für das Leid des Nächsten sensibilisiert und mit seinem
ganzen Herzen zu entschiedenem Handeln motiviert.
Barmherzigkeit ist
Zentrum unserer christlichen Botschaft, und dennoch mag sie nicht an religiöse
Grenzen sowie Praxis gebunden sein, wie es das Gleichnis des Barmherzigen
Samariters deutlich macht. Der Evangelist Lukas bedient sich dort des
griechischen Wortes „eleos“ für Barmherzigkeit, das seiner Bedeutung nach für
die Zerschneidung des Herzens steht. Umgangssprachlich können wir sagen: Es schneidet mir ins Herz, mitansehen
zu müssen, wenn einer den anderen kalt stellt, wie einer den anderen mobbt, das
Leben auf einen Schlag zerstört wird – dann handle ich, schneide ein Stück
meines Herzens heraus, um es dem anderen zu schenken, der keine Stimme mehr hat
und das Vertrauen verloren hat, dass dieses Herzstück für den anderen einstehe,
bis er wieder aufsteht. Dieser Perspektivwechsel hin zum bislang Verdrängten
und Übersehenen – die Perspektive der Leidenden – macht Prioritäten deutlich
und versteht Barmherzigkeit als keine abstrakte Idee, „sondern als eine sich an
konkrete Lebenssituationen wendende Liebe“ (Papst Franziskus).
Catharina Buck
Jahr der Barmherzigkeit
Beginnend mit dem 1. Advent am Sonntag, 29. November 2015 hat Papst Franziskus das gesamte Kirchenjahr unter das Leitwort „Barmherzigkeit“ gestellt.
Der ehemalige Bischof von Erfurt, Dr. Joachim Wanke, übersetzte
bereits im Jahr 2006 die klassischen sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit in unsere Gegenwart. Sie lauten für ihn (in
überarbeiteter Form):
Du gehörst dazu
Niemand soll in unserer Gesellschaft an den Rand gedrückt werden. Es
darf weder die Hautfarbe, die Nationalität, der soziale Stand, die Religion usw. eine Rolle spielen. Das Signal „Du bist kein Außenseiter! Du gehörst zu uns!“ ist ein sehr aktuelles Werk der Barmherzigkeit.
S. Köder: Die sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit
Ich höre dir zu
Vielfach spüren wir es nicht mehr, das Gefühl für Zeit. Wir spüren es
allenfalls als Verlust. „Wir haben keine Zeit mehr!“ Paradoxerweise bedienen
wir uns mehr und mehr technischer Hilfsmittel, damit wir Zeit für das
Wesentliche „gewinnen oder gar sparen“. Zeit haben, zuhören können – ein Werk
der Barmherzigkeit – so dringlich wie nie zuvor.
Ich rede gut über dich
Wir erleben es vielfach: Ist eine bestimmte Person anwesend, reden wir
mit ihr, als sei sie der beste Mensch der Welt. Doch wehe, sie ist nicht da….
Ein kritischer Umgang darf sein. Es ist wichtig, ihr ehrlich und freundlich zu
sagen, was einen an ihr stört oder worin sie falsch handelt. Doch was heute
freilich oft fehlt, ist die Wertschätzung des anderen, ein grundsätzliches
Wohlwollen für ihn und sein Anliegen und die Achtung seiner Person.
Ich gehe ein Stück mit dir
Vielen ist mit einem guten Ratschlag allein nicht geholfen. Es bedarf
in unserer immer komplexer und schwieriger werdenden Welt oft einer
Anfangshilfe. Sozusagen eines an die Hand nehmen und eines „Mitgehens der
ersten Schritte“, bis der andere sich zutraut alleine weiterzugehen. Das Signal
dieses Werkes der Barmherzigkeit lautet: „Du schaffst das! Komm, ich helfe dir
beim Anfangen!“
Ich teile mit dir
Auch zukünftig werden wir in einer Welt leben, in der es ungerecht,
gewalttätig und menschenverachtend zugeht. Institutionelle Hilfen durch
verschiedene caritative Organisationen sind deshalb auch wichtig. Dennoch wird
nach wie vor das Teilen seine Bedeutung behalten. Nach wie vor wird es der
Hilfe für diejenigen, die sich selbst nicht helfen können, bedürfen. Das Teilen
von Gaben und Geld, von Chancen und Möglichkeiten wird notwendig bleiben. Die
alte Spruchweisheit gewinnt angesichts der wachsenden gesellschaftlichen
Anonymität neues Gewicht: „Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist
doppelte Freude!“
Ich besuche dich
Den anderen in seinem Zuhause aufzusuchen ist besser, als darauf zu
warten, dass er zu mir kommt. Ein Besuch schafft Gemeinschaft, man wird ernst
genommen und kann erzählen, wie es gerade um einen steht. Gehen wir auch auf
jene zu, die nicht zu uns gehören. Sie gehören Gott, das sollte genügen!
Ich bete für dich
Wer für andere betet, schaut auf sie mit anderen Augen. Er weiß um die
augenblickliche Situation oder Notlage des anderen. Dadurch begegnet er ihnen
anders. Hin und wieder sagen selbst Nichtchristen, dass sie dankbar für ein
fürbittendes Gebet sind. Überall dort, wo regelmäßig und stellvertretend für
andere – die Lebenden und die Toten - gebetet wird, ist das ein Segen! (entnommen aus: Bistum Erfurt.de/ Elisabeth 2007)
Die "klassischen" geistlichen Werke der Barmherzigkeit sind:
Unwissende lehren, Zweifelnden raten, Irrende zurechtweisen, Trauernde trösten,
Unrecht ertragen, Beleidigungen verzeihen, für Lebende und Tote beten.